07.08.2017

Terrorismus Ja oder Nein? Die Messerstecherei in Hamburg

Nach dem Anschlag auf den Orlando Pulse Nachtclub, machte ich die kühne Aussage, dass dies kein Terrorakt war. Ich argumentierte, dass es sich um einen persönlichen Anschlag handelte, für den Terrorismus nur als Deckmantel diente, anstatt das Kernmotiv zu sein. Die Rückmeldungen waren überraschend geteilt und ich erhielt viel mehr Zustimmung als ich erwartet hatte, während einige meinen Verstand und meine Professionalität in Frage stellten. Ich erinnerte mich an den Ausspruch, dass „wenn es wie eine Ente aussieht und wie eine Ente quakt, es eine Ente ist“.

Ein Jahr später ist Deutschland mit einer ähnlichen Situation konfrontiert, aber es gibt eine wesentlich offenere Debatte. In der Tat betrat ein Mann am 28. Juli einen Supermarkt, stach auf fünf Menschen ein, tötete einen Mann und floh vom Tatort, bevor er schließlich festgenommen werden konnte. Die ersten Berichte lagen zunächst – wie zu erwarten war – komplett daneben, der Verdächtige wurde als Flüchtling der Vereinigten Arabischen Emirate beschrieben. Bis zum Verfassen dieses Textes haben offizielle Stellen es vermieden, das Wort „Terrorismus“ zu verwenden, obwohl die Generalbundesanwaltschaft (GBA) genug Beweismittel für die Ankündigung fand, die Ermittlungen zu übernehmen. Dies ist nicht unerheblich, da die GBA in Deutschland für die Ermittlung und Strafverfolgung von Terrorakten verantwortlich ist so wie die Section anti-terroriste du Parquet de Paris in Frankreich. Es ist zweifelsohne der stärkste Hinweis, dass der Anschlag in Hamburg ein Terrorakt war.

Und trotzdem wütet die Debatte weiter. Der Attentäter behauptet, dass er als Märtyrer sterben wollte und es wurden IS-Paraphernalia in seinem Schließfach in der Flüchtlingsunterkunft gefunden, in der er lebte. Nichtsdestotrotz argumentieren einige Experten merkwürdigerweise, dass man ihm einen Gefallen tun würde, wenn man ihn als Terroristen bezeichnet, und einige Journalisten diskutieren, ob die Identifizierung des Attentäters selbst als Terrorist relevanter ist als die Aussage seiner Familiemitglieder, er wäre keiner.

Die Ironie dieser Debatte ist, dass die Bezeichnung Terrorismus historisch vom Opfer vergeben wird und nicht vom Täter. Terroristen bezeichnen sich selbst nie so, sondern als Kämpfer. Sie glauben an die Rechtschaffenheit ihrer Taten und sind deshalb auch gewillt, für ihre Überzeugungen zu sterben. Wenn nun das offizielle Beweismaterial in Richtung Terrorismus weist, aber von offizieller Seite niemand diese Bezeichnung verwendet, war der Anschlag in Hamburg dann ein Terrorakt?

Warum nicht

Ich habe mehrfach in den letzten Jahren argumentiert – auch im Fall Orlando – dass es bei Terrorismus, in diesem Jahrhundert und besonders in diesem Jahrzehnt, um die Inbesitznahme von Marken geht, und keine terroristische Organisation war erfolgreicher, ihre Marke durch „open source“ zu stärken und bekannt zu machen als der IS. Dies führte dazu, dass viele einen „legitimen“ Weg erhielten, ihre Anschläge auf das auszuführen, was sie als Ursprung ihres Problems ansahen. Zum Beispiel diejenigen, die sich unfair von der Polizei behandelt fühlten, zielten auf Vertreter der Polizei, wie in Magnanville im Juni 2016 oder in Paris am 20. April 2017 und fanden einen Weg, ihre Taten durch religiöse oder ideologische Rechtfertigung zu legitimieren. Ist es also Terrorismus, wenn die Tat eher persönlich als politisch ist? Da Terrorismus im Allgemeinen als politische Tat angesehen wird, würde ein persönliches Motiv jeglichen legalen oder akademischen Gebrauch des Begriffs Terrorismus ausschließen.

Ein anderes Element warum der Gebrauch des Begriffs Terrorismus problematisch sein könnte sind die Massenmorde. Während der letzten zwei Jahre war der erste Reflex der westlichen Bevölkerung, wenn sie von einem Autounfall mit vielen Opfern hörten wie in New York, Amsterdam oder Helsinki oder vom einem Massenanschlag wie in Konstanz, anzunehmen, dass es sich um Terrorismus handeln muss. Die Realität hat uns jedoch immer wieder gezeigt, dass es Unfälle gibt und dass die Mehrzahl der Massenmorde nichts mit Terrorismus zu tun haben, auch wenn der Ausdruck „jemand mit psychischen Störungen“ mittlerweile als „weißer Weg“ verachtet wird, Terrorismus zu adressieren. Wir warten noch auf weitere Beweise zum Fall in Hamburg, so dass nach wie vor die (allerdings geringe) Möglichkeit besteht, dass es kein Terroranschlag war.

Abschließend gibt es auch die rechtliche Formalität, dass in der deutschen Rechtssprechung ein Terrorakt durch die Zugehörigkeit an eine terroristische Organisation bedingt wird, die aus mindestens drei Personen besteht, wie der Prozess der rechtsextremen NSU-Angehörigen Beate Zschäpe zeigt. Falls der Attentäter von Hamburg alleine handelte, plante und niemandem seine Zugehörigkeit schwor, dann würde er rechtlich nicht als Terrorist angesehen und für Mord und versuchten Mord verurteilt, auch wenn die Tat politisch motiviert war. Diese rechtliche Formalität wurde auch auf den Fall des Attentats auf die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker angewendet sowie auf den Fall des Mordes an der britischen Abgeordneten Jo Cox in Großbritannien. Von Rechts wegen ist der Anschlag in Hamburg daher – falls keine Verbindungen zu einer Gruppe oder Einzelpersonen gefunden werden – nicht als Terrorismus anzusehen.

Warum doch

Ich habe oben erwähnt, dass die Tatsache, dass der Generalbundesanwalt sich der Ermittlungen annimmt, bereits ein ziemlich großer Hinweis auf einen Terrorakt ist. In seiner Begründung heißt es, dass die Beweismittel auf eine radikal islamistische Motivation hinweisen, was diesen Anschlag politisch motiviert machen würde.

Ein weiterer Aspekt ist natürlich, dass der Täter behauptet, als Märtyrer sterben zu wollen und die Art des Anschlags ist offensichtlich eine Nachahmung von Terroranschlägen, bei denen ebenfalls Messer verwendet wurden. Doch der Modus Operandi des Anschlags ist so generisch – Messerstechereien sind ein jüngeres Phänomen im Terrorismus – dass es kein Kennzeichen von Terrorismus ist. Darüber hinaus würde weiteres Fundmaterial, welches darauf hinweist, dass der Attentäter vom IS inspiriert wurde, die Annahme unterstützen, dass das Motiv für den Anschlag politisch war und deshalb der Definition von Terrorismus entspricht. Falls tatsächliche Verbindungen zum IS gefunden werden, dann wäre eine Zugehörigkeit an eine terroristische Organisation hergestellt, wodurch die Tat aus rechtlicher Sicht als terroristisch gewertet würde.

Das Motiv des Attentäters

Außer dass er als Märtyrer sterben wollte, ist nichts über die Motive des Attentäters bekannt, aber häufig werden Massenattentäter emotional dazu veranlasst, den Schritt von Extremismus zu Gewalt zu machen, und frühe Berichte weisen auf eine spontane Entscheidung hin, den Anschlag zu verüben. Es wurde viel darüber gesprochen, dass dem Attentäter der Flüchtlingsstatus verwehrt wurde und es ist möglich, dass dies der Auslöser für die Tat war.

Nichtsdestotrotz möchte ich einen anderen möglichen Auslöser vorschlagen: Die Unruhen und der Konflikt um den Zutritt zur Al Aqsa Moschee, die in den vergangenen Wochen in Jerusalem herrschten. Sechs Menschen starben und Dutzende wurden während der Proteste gegen die von der israelischen Regierung eingesetzten Metalldetektoren und Altersbeschränkungen verletzt. Dieser Schritt wurde verurteilt und trotz der Aufhebung der Restriktionen war der Schaden bereits geschehen, und viele Araber und Palästinenser hatten einen zusätzlichen Grund, wütend auf Israel zu sein. Könnte es sein, dass der Attentäter von Hamburg, der Palästinenser ist, durch die Gewalt, die am Tempelberg herrschte, zum Handeln getrieben wurde?

Zu diesem Zeitpunkt ist es reine Spekulation, aber wenn man sich die Schlüsselrollen anschaut, welche der Konflikt zwischen den Palästinenser und Israelis sowie die weitreichenden Spannungen zwischen Muslimen und Juden in extremistischer Rhetorik spielen und wie sich diese schon jetzt als Auslöser für vergangene Terrorakte bewiesen haben, dann besteht die Möglichkeit, dass der Anschlag in Hamburg durch die Al-Aqsa Konflikte veranlasst wurde. Darüber hinaus unterstützt auch der Zeitpunkt des Anschlags – seine Spontanität – dieses Argument und erinnert uns erneut daran, dass der „Schmetterlingseffekt“ sehr real ist, wenn es um politische Gewalt geht.

Was ist es also?

Basierend auf den aktuell verfügbaren Informationen würde ich den Anschlag auf den Supermarkt in Hamburg als Terrorakt klassifizieren. Ich verstehe die Zurückhaltung, einen Anschlag vor dem Sammeln aller Fakten zu definieren, insbesondere im Kontext eines Wahlkampfes und in den Fingern juckenden Schlagzeilen und Social-Media-Nachrichten, aber es gibt genug Elemente in diesem Fall, die sehr stark auf Terrorismus hinweisen.

Deutschland wird am 24. September Bundestagswahlen abhalten. Wie wir dieses Jahr bereits in Frankreich und insbesondere in Großbritannien gesehen haben, sind Wahlen eine fruchtbare Zeit für Terrorakte, daher gilt es, extra Vorsicht walten zu lassen bei der Bezeichnung eines Verbrechens als Terrorismus. Wenn ein Anschlag öffentlich als Terrorakt angesehen wird, folgt dann zwangsläufig die Behauptung dies tatsächlich zu sein, auch wenn der Täter komplett allein handelte? Ist die Vorsicht auch Teil der Sicherheits-Strategie abzuwarten, ob eine terroristische Organisation die Tat für sich beanspruchen wird? Oder geht es bei der Frage um die Kategorisierung des Anschlags in Hamburg darum, die Medienöffentlichkeit einzuschränken und dadurch auch den Einfluss auf Möchtegern-Attentäter? In der Tat sind alle diese Punkte und weitere wahrscheinlich.

Die Debatte darüber, was Terrorismus ist und was nicht, ist im Wesentlichen akademisch und rechtlich, daher existieren Hunderte von Definitionen, doch auch wenn sie manchmal heiß läuft, bleibt sie ziemlich folgenlos. Ihre Verwendung von gewählten und Sicherheits-Vertretern jedoch nicht. Sie lässt Terrorismus „real“ werden, weil er vom Opfer und nicht vom Täter definiert wird. Wenn nun deutsche Sicherheitsbehörden und Politiker sich trotz anderslautender Beweislage weigern, die Bezeichnung Terrorismus für den Anschlag in Hamburg zu verwenden, dann ist es im aktuellen Kontext strategisch vernünftig, da es die wahre Wirkmächtigkeit des Anschlags entkräftet. Und dies mag die wahre Frage sein, die aus dem Anschlag in Hamburg entsteht: Existiert er, wenn man ihn nicht erwähnt?