27.07.2016

Anschläge in Europa: Mehr als islamistischer Terrorismus

Seit dem Anschlag in Nizza am 14. Juli erschienen fünf weitere Anschläge in den Schlagzeilen aus ähnlichen oder ähnlich vermuteten Gründen: am 18. Juli in Würzburg; am 22. Juli in München; am 24. Juli in Reutlingen; am 24. Juli in Ansbach; und am 25. Juli in St-Étienne-de-Rouvray, Frankreich. Die Anschläge vom 18.-24. Juli geschahen alle in Deutschland und erwecken den Eindruck, dass der Terror jetzt auch deutschen Boden erreicht hat.

Die schnelle Abfolge der Anschläge könnte suggerieren, dass Deutschland und ganz Europa jetzt von einer Welle von Gewalt überflutet werden, mehrheitlich verübt von muslimischen oder ausländischen Tätern. Ein kritischerer Blick zeigt jedoch deutlich, dass diese Welle bereits vor Monaten begann und alles andere als ein Produkt von Muslimen und Ausländern ist. Dieser Blog-Artikel soll eine erweiterte Sicht auf die Massenmorde und Anschläge während der letzten zehn Monate in Europa bieten, um unternimmt den Versuch, die verschiedenen zu Grunde liegenden Faktoren dieser Situation zu verstehen.

In Deutschland begann die Anschlagsreihe im Oktober 2015

Obwohl der Hype um Massenanschläge erst nach dem Anschlag im Zug nach Würzburg am 18. Juli seinen Höhepunkt erreichte, war es zu dem Zeitpunkt bereits der sechste Anschlag dieser Art, beginnend mit dem versuchten Mord an der Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker. Dies ist die Abfolge der Anschläge seitdem:

An diesem Punkt möchte ich klarstellen, dass der Macheten-Angriff in Reutlingen am 24. Juli kein Massenanschlag war, sondern ein gezielter Mord. Obwohl die Brutalität des Angriffs verstörend ist, kann dieser nicht unter derselben Kategorie wie die anderen Anschläge analysiert werden.

Dies sind die Elemente, die bei all diesen Anschlägen hervorstechen:

  • Bis auf zwei der Attentäter (Würzburg und Ansbach) sind alle in Deutschland geboren und aufgewachsen

  • Nur zwei Anschläge wurden von Ausländern und Flüchtlingen verübt

  • Acht der neun Attentäter waren unter 30

  • Sieben der neun Attentäter waren unter 20

  • Die Motivationen hinter den Anschlägen sind sehr verschieden: mutmaßlich rechtsextremistischer Terrorismus (2), unpolitischer Massenmord (3), islamistischer Terrorismus (4)

Basierend auf diesen Punkten stellt sich für mich nicht die zentrale Frage, welche zusätzlichen Maßnahmen implementiert werden sollten, sondern viel eher warum so viele unter 30-Jährige und unter 20-Jährige davon angezogen werden, ihre Beschwerden mit solcher Gewalt auszudrücken. Warum sind alle Seiten des politischen Spektrums von dieser Gewalt betroffen? Welche Umstände fördern das Bedürfnis nach gewalttätigem politischem Ausdruck? Zur Zeit habe ich Teilantworten auf diese Fragen.

Europa und Nordamerika sind betroffen

Dies ist kein isoliertes Phänomen. Es ist Teil eines viel größeren Bildes, welches auch die Zunahme von täglicher, rechtsextremer Kriminalität in Europa beinhaltet; erfolgreiche und erfolglose Mordanschläge auf Politiker; die Massenunruhen und Streiks mit hunderten Verletzten; und die dazugehörige extremistische politische Rhetorik. Politischer Extremismus liegt in Europa in der Tat in der Luft und trägt zu den Umständen bei, welche die Anwendung von Gewalt für politische und andere Zwecke fördern. Dies erfordert ein gründliches Verstehen sowie die passende Antwort.

Diese Themen müssen als gesamte westliche Angelegenheit betrachtet werden. Nicht nur Belgien, Frankreich und Deutschland sind betroffen. Der Mord an der britischen Unterhausabgeordneten Jo Cox während einer hässlichen Brexit-Referendums-Kampagne; die Schießereien in Orlando und Fort Myers; ebenso wie die großen Rassenkonflikte in den USA, die zur Jagd auf Strafverfolgungsbeamte als Rache für die Tode in Polizeigewahrsam geführt haben, sind deutliche Zeichen dafür, dass das derzeitige Aufkommen politischen Extremismus alle betrifft. Die am meisten Betroffenen sind eindeutig die jüngeren Generationen.

Entscheidungsträger und Sicherheitsbeamte in Europa müssen verstehen, dass kurzfristige Maßnahmen wie die Erhöhung der Anzahl an Polizeibeamten oder Überwachung nur Teil der Lösung sind. Mehr Polizeibeamte werden die Vorstellungen von Terroristen nicht weniger verlockend darstellen; mehr Überwachung wird die Gewaltfantasien von Todesschützen und Terroristen nicht minimieren. Wenn überhaupt, dann hat diese Anschlagsserie deutlich gezeigt, dass Mörder alles Mögliche benutzen, um ihre Ziele zu erreichen und Abschreckung funktioniert bei Selbstmordmissionen nicht. Das bedeutet, dass beispielsweise Lehrer eine vernünftige Ausbildung bekommen müssen, die ihnen hilft, erste Anzeichen von möglichen Gewaltausbrüchen zu entdecken und nicht nur von möglicher Radikalisierung. Wir müssen die Menschen ausbilden und ihnen zu verstehen geben, dass die Drohungen, die der Attentäter in München gegen seine Klassenkameraden ausgesprochen hat, nicht auf die leichte Schulter genommen werden dürfen und gemeldet werden sollten. Ich verstehe, dass niemand einen Spitzel mag, aber Drohungen nicht ernst zu nehmen kann zum eigenen Tod führen.

Wir müssen mit den Problemen und Symptomen umgehen, indem wir sie mit allen vorhandenen Ressourcen komplementieren, einschließlich Lehrern, Sozialarbeitern, Gemeindevorstehenden, Aktivisten, Strafverfolgung und der Aufmerksamkeit eines jeden Bürgers. Nur indem wir zusammenarbeiten kann das Blatt gewendet werden.

Des Weiteren müssen Politiker anfangen, langfristig zu denken. Ein populistischer Diskurs facht Angst und Wut an und trägt zu einer explosiven Stimmung bei. Sich an Programmpunkten radikaler Parteien zu bedienen, um den Gegner auszustechen, führt zu einer gewissen Öffentlichkeit und Legitimität solcher Positionen und verstärkt die Vorstellung, dass man etwas gegen jene tun muss, die nicht zuhören wollen – wie sich bei den Anschlägen auf Henriette Reker und Jo Cox zeigte.

Die Vielfalt der Anschlagsprofile in Deutschland macht deutlich, dass wir es mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun haben, nicht nur mit einer Sicherheitsthematik. Daher ist es unabdinglich, diese Probleme auch so zu behandeln und Lösungen zu finden, die die notwendige Vielseitigkeit und Vielfalt haben. Traurigerweise scheint es so, als ob gewalttätiger Extremismus junge Menschen am stärksten betrifft und das bedeutet auch unser aller Zukunft.