21.04.2015

Gast-Beitrag: Wer brennt?

Migration aus humanitären Gründen ist ein weltweiter Trend geworden. Die Anzahl der gewaltsam Vertriebenen und Asylsuchenden ist enorm gestiegen. Neue und alte Konflikte, inklusive jenen in der Ost-Ukraine, Syrien, Afghanistan, Irak, Sudan, Kongo und einem Duzend anderer Regionen haben eine steigende Anzahl von Menschen in Gefahr gebracht. 2013 meldete das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) zum ersten Mal seit der Ära des Zweiten Weltkriegs über 50 Millionen Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene weltweit. Das bedeutet, dass 51,2 Millionen Menschen Hilfe brauchen.

Finden sie Asyl in Europa? Suchen sie Sicherheit und Zuflucht in den 28 EU-Staaten? Ist Europa für Menschen in Not und Gefahr ein willkommen heißender Kontinent? Die Antworten sind NEIN. Unter den Ländern, die die Mehrheit der Flüchtlinge und Vertriebenen aufnehmen sind Pakistan (1,6 Millionen); Libanon (1,1 Millionen); und Iran (982.000) an erster Stelle. Zusätzlich boten Äthiopien (mit 404 Flüchtlingen); Pakistan (mit 334 Flüchtlingen); und Tschad (mit 199 Flüchtlingen) pro $1 BIP pro Kopf den meisten Flüchtlingenl weltweit Zuflucht. Weitere Länder mit einer großen Flüchtlingsbevölkerung sind die Türkei (824.000), Jordanien (737.000), Äthiopien (588.000), Kenia (537.000) und Tschad (455.000). Frankreich mit 298.828 Flüchtlingen und Deutschland mit 362.668 Flüchtlingen sind weit davon entfernt “Anführer-Länder” wie die oben erwähnten zu sein. Wenn man die Daten dieser drei Länder mit denen der 28 EU-Staaten vergleicht, kann nur eine Frage aufkommen – wie konnten wir so lange über eine so kleine Anzahl von Menschen in Not diskutieren und was stimmt nicht mit uns?

Vor zwei Tagen ertranken fast 900 Menschen im Mittelmeer. Sie starben kurz bevor sie ihren Traum, die EU-Grenze, erreichten. Diese Katastrophe ereignete sich nur wenige Tage nachdem ein anderes Flüchtlingsboot gekentert war und 400 Migranten ohne Papiere umkamen. Es ist Zeit, dass wir die Balance zwischen Moral, dem Recht auf Leben und dem Interesse eines Staates seine Grenzen zu schützen überdenken. Die aktuelle Asylpolitik der 28 EU-Staaten ist getrieben von einer ungeklärten Angst vor Zuwanderern und ihren „Unterschieden“ im Vergleich zu „uns“ Europäern. Der Fall in Tröglitz, Sachsen-Anhalt, hat gezeigt wovor sich die deutsche Gesellschaft fürchtet und woran sie krankt. Der Landkreis, dessen Einwohner Angst vor Zugereisten haben und ein für Flüchtlinge vorgesehenes Mehrfamilienhaus in Brand steckten, nahm 2013 284 Migranten aus humanitären Gründen auf, 2014 waren es rund 650 Menschen. Kann es sein, dass diese Menschen eine zusätzliche Last für eine Gemeinde oder das Budget einer Region sind? Kann es sein, dass diese 800 Menschen eine Gefahr für die Einheimischen und ihre Traditionen, ihre Lebensart und Kultur darstellen? Daran gibt es Zweifel.

Die Empfänger-Gesellschaften sind stark und „gesund“, wenn die Einheimischen nicht misstrauisch sind und Angst vor fremden Einflüssen haben, wenn sie etwas von außen aufnehmen können und vollständig in ihre eigene Kultur, Traditionen und ihren Alltag integrieren können. Das ist ein Zeichen für soziale „Gesundheit“. Unsere Welt brennt und Millionen von Menschen sind in Gefahr und benötigen Hilfe. Krieg und Hass verbreiten sich wie ein Lauffeuer über den Erdball. Die Brände spiegeln sich in manchen Regionen Deutschlands wider, in denen die Anwohner Angst vor den Menschen hatten und sie hassten, die aus ihrer Heimat und ihrem Land vertrieben wurden, getrennt von ihren Familien und Freunden, die Sicherheit und Zuflucht so weit entfernt von ihrem Geburtsort suchten.

Kann Europa eine neue Asylpolitik als win-win Situation aufbauen?

Die Mehrheit der europäischen Politiker, Behörden und Mitglieder der Gesellschaft hat sich zurzeit in der Debatte zur Asylpolitik fest gefahren. Obwohl vor noch nicht einmal 70 Jahren Millionen von Europäern flohen und aus ihrer Heimat vertrieben wurden, bevor sie außerhalb Europas Asyl fanden. Damals hießen andere Länder und Kontinente die europäischen Flüchtlinge willkommen und retteten dadurch ihre Leben. Es ist höchste Zeit für die Europäer, diese Schuld zurück zu zahlen. Es kann keinen Zweifel daran geben, dass das zukünftige Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) sich auf die Risiken konzentrieren muss, die regelmäßig von Einwanderern unternommen werden und sich darauf richten muss, Menschen zu schützen, statt nur die Grenzen zu kontrollieren.

Bearbeitungszentren außerhalb der EU einzurichten könnte eine erste wichtige Verbesserung sein und eine gute Basis für eine kluge Asylpolitik innerhalb der 28 EU-Staaten. Diesen Zentren müssen Rechtsbeistand bei allen Verfahrensstationen eines Asylgesuchs leisten und bestimmte Bedürfnisse decken, um den Menschen in Not einen würdevollen Lebensstandard zu garantieren. Die Zentren sind ebenso dafür zuständig, die Asylsuchenden und ihren Familien bei Ausbildung, Beruf und Sprache zu unterstützen. Das GEAS muss zudem die Asylsysteme innerhalb der 28 EU-Staaten harmonisieren und die Unterschiede zwischen den Ländern auf der Basis verbindlicher Rechtssprechung reduzieren. Rechtsbeistand von Beginn an und außerhalb der EU würde eine faire Beurteilung der Asylanträge und eine effizientere Administration ermöglichen. Darüber hinaus würde ein solches System einen effizienten Nutzen menschlicher und technischer Ressourcen mit sich bringen und das Verständnis zwischen den Menschen in Not und den für die Asylanträge zuständigen Behörden verbessern.

Braucht Deutschland einen verstärkten Zustrom humanitärer Migration?

Diese Frage ist leicht zu beantworten. Auf kurze Sicht braucht Deutschland, als eines der führenden Länder Europas, keinen verstärkten Zustrom von Ländern außerhalb der EU. Deutschland könnte die pro-osteuropäischen Strukturen beibehalten und die meisten Zuwanderer aus Polen oder Rumänien aufnehmen wie 2013. Auf lange Sicht jedoch wird Deutschland einen starken Migrationszustrom aus dritten Ländern benötigen, um nicht nur weiterhin eine Führungsrolle auf der europäischen und globalen Bühne zu behalten, sondern auch um den Lebensstandard der deutschen Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Deutschland hat aktuell eine der am stärksten alternden und schrumpfenden Bevölkerungen der Welt. Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) hat geschätzt, dass die deutsche Bevölkerung bis 2060 auf 61,9 Millionen Menschen anwachsen wird (negatives Szenario) bzw. auf bis zu 78,4 Millionen Einwohner (positives Szenario). Sowohl das negative als auch das positive Szenario zeigen Deutschland mit einem deutlichen Rückgang des Bevölkerungswachstums und prognostizieren das Risiko einer „teuflischen“ demografischen Spirale, wo der Anteil von alten zu jungen Bürgern 2:1 wäre.

Ein Bericht der Bertelsmann-Stiftung bestätigt, dass dem nationale Arbeitsmarkt ohne neue Einwanderer aus dritten Ländern bis 2050 schätzungsweise 45 Millionen Arbeitskräfte fehlen werden. Außerdem wird einer von zwei Facharbeitern mit Berufsausbildung bis 2030 in Rente gegangen sein.(1) Mario Ohoven, Präsident des Bundesverbands mittelständischer Wirtschaft, spricht von einem Mangel von 5-7 Millionen Arbeitskräften bis 2030.(2) Obwohl die Menschen bereits hier sind. Flüchtlinge, Asylsuchende und Vertriebene sind jung und im arbeitsfähigen Alter. Sie haben bereits die Arbeit der nationalen Regierung erledigt, die normalerweise die Menschen dazu bewegen sollte, nach Deutschland zu kommen. Lasst uns die Ergebnisse nutzen und von diesem Vorteil in den kommenden Jahren profitieren.

Menschen willkommen heißen, unterstützen und ausbilden wie es bereits in Bad Hersfeld geschieht.(3) Rund 120.000 Menschen leben in Hersfeld Rotenburg, aber die Bevölkerung altert und schrumpft. Jahrelang lebten die Einwohner mit dem Risiko, ohne Handwerker oder Arbeiter wie Maler, Maurer, Reinigungskräfte etc. auskommen zu müssen. Als Lösung initiierte die örtliche Gemeinde ein Projekt, das auf eine Berufsausbildung für Asylantragsteller oder Menschen mit Flüchtlingsstatus in Deutschland abzielt und diese unterstützt. Die Lernenden – Asyl- oder Flüchtlingsstatus-Antragssteller – erhalten monatlich 600 Euro und einen Beruf. Infolgedessen hat Hersfeld Rotenburg heutzutage ausreichend Arbeitskräfte und die Gemeinde spart jährlich rund 420.000 Euro, da sie Investitionen für die Integration von Neuankömmlingen in den Arbeitsmarkt ablehnen kann.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es das größte Privileg des Menschen ist, an einem Ort geboren zu sein, an dem weder Krieg noch militärische Konflikte herrschen; an dem Frauen und Männer gleichberechtigt sind; an dem Einzelne mit anderen religiösen oder politischen Glaubenssätzen die gleichen Rechte haben; an dem Kinder nicht arbeiten müssen; an dem Wasser und Umwelt sauber und sicher sind; an dem jeder Tag ein Wettstreit um ein besseres Leben ist und nicht eine Frage auf Leben und Tod.

Heutzutage kann niemand argumentieren, dass erzwungene Migration jemals eine persönliche Wahl wäre. Sie ist das Ergebnis einer Welt voller Konflikte. Aufgrund dieser Tatsache ist es die persönliche Verantwortung eines jeden Einzelnen von uns, hart dafür zu arbeiten, ein Bewusstsein für die Herausforderungen und Schwierigkeiten zu schaffen, denen sich Flüchtlinge, Asylsuchende und Binnenvertriebene stellen müssen, wir müssen bewährte Verfahren in der Arbeitsmarkt-Integration, in der Unterkunft und im Aufbau von sozialen und beruflichen Netzwerken für diese Menschen stärken und weiter verbreiten.

(1) Fuchs, J., Kubis, A., Schneider, L., Zuwanderungsbedarf aus Drittstaaten in Deutschland bis 2050, Bertelsmann Stiftung, 2015, 97p.
(2) Annual meeting of representatives of Germany’s small and medium-sized businesses in January 2015 in Berlin.
(3) Read more about this success story in Thieme, M., Zwischenstopp: Hersfeld-Rotenburg, Deutschland, Capital, Aus. 04/2015, PP.90-91.

Über die Autorin:

Dr. Olga R. Gulina hält einen Doktortitel in Migrationsstudien (Deutschland, 2010) sowie in Recht (Russland, 2002). Sie ist Geschäftsführerin & Gründerin von RUSMPI – Institute on Migration Policy. E-mail: contact@rusmpi.org