26.11.2014

Welche Ziele verfolgt Boko Haram?

Seit Ende Oktober hat die Organisation Boko Haram eine „Rückkehr zum Erfolg“ genossen nachdem sie einer Reihe von Verlusten erlitten hatten und der starken Hype um die Waffenruhe mit der nigerianischen Regierung in den Medien war. Durch den doppelten Selbstmord-Anschlag der zwei jungen Mädchen in Maiduguri und den Anschlag auf Damasak am 25. November ist die Organisation erneut in den Schlagzeilen und es wird gleichzeitig die Frage nach ihren Motiven und dem was sie bezwecken wollen gestellt. Da die Informationen zu Boko Haram und ihren Aktionen sehr verwirrend sein können – sie basieren v.a. auf Angst oder auf von Gier getriebenen Gerüchten – werde ich versuchen, eine kurze, aber genaue Übersicht über die aktuellen Tendenzen und Strategien zu geben.

Wie ich bereits in der neuesten Ausgabe des deutschen Nahost-Magazins Zenith schrieb, geht es Boko Haram nicht wirklich um den Dschihad, sondern um Macht. Ich schrieb auch, dass obwohl sie sehr lange extrem unorganisiert waren und keine vernünftigen Ziele und Struktur hatten, Boko Haram seit Februar 2014 ein wachsendes Vermögen für Strategie, taktische Weiterentwicklung und organisatorische Kohäsion gezeigt hat – das Letztgenannte sollte jedoch nicht mit Homogenität verwechselt werden, da Boko Haram aus verschiedenen Splittergruppen besteht und alles andere als eine Einheit ist.

Die Weiterentwicklung und der militärische Erfolg versetzte die Gruppe in eine Situation, die der von ISIS nicht unähnlich ist, die unerwartet schnellen Fortschritte führten zu einer Ausdehnung der Truppen, die wiederum zu logistischen Problemen führte. Wie ISIS hat auch Boko Haram Rückschläge erlitten, aber die sogenannte Kampfpause, die wir im September/Oktober sahen, war eher eine Atempause als ein Zeichen ihrer Schwäche. Daher erklärt sich auch die Wiederaufnahme der Aktivitäten in den letzten drei bis vier Wochen und die wachsende Verwirrung über den Zustand im Nordosten Nigerias und Boko Harams.

Warum benutzt Boko Haram Mädchen als Selbstmordattentäter?

Es ist vor allem eine taktische Entscheidung. Frauen und Kinder werden selten als Bedrohung angesehen und bieten daher eine perfekte Tarnung für Selbstmordanschläge. Das ist in sich keine Neuheit, weibliche Selbstmordattentäterinnen sind auch früher schon in vielen Regionen, u.a. dem Nahen Osten und Russland, eingesetzt worden, bspw. die Schwarzen Witwen. Neu ist jedoch seit Juni die regelmäßige Verwendung von Mädchen – nicht Frauen – als Trägerinnen von Sprengsätzen, die für Boko Haram zum Standard geworden zu sein scheint, und dies ist der Besornis erregendste Aspekt überhaupt. Solche Träger sind fast unmöglich zu entdecken und wie der Anschlag in Maiduguri bewiesen hat, können sie bei präziser Ausführung überaus todbringend sein (die Geduld des zweiten Mädchens ist extrem unheimlich).

Wenn man die Anzahl der Mädchen, die in den letzten Jahren von Boko Haram entführt wurden, betrachtet – nicht nur die Chibok Mädchen – dann sieht man, dass die Organisation sich ihre „Bombenträger“ aussuchen kann. Die Opfer werden aufgrund ihres „geringeren Wertes“ als Ehefrau ausgesucht, oder weil sie entweder an einer Behinderung leiden, sich geweigert haben ihre Rolle zu spielen oder entehrt wurden und nun bestraft werden müssen. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Boko Haram in der nahen Zukunft aufhören wird, weibliche Selbstmordattentäter zu benutzen, da sie sich sowohl taktisch effektiv erwiesen haben als auch berechtigten Ekel und Angst fördern. Tragischerweise sind sie die effizienteste Waffe der Gruppe.

Welche Ziele stehen hinter den Anschlägen?

Die Ziele haben sich vom Senden einer Botschaft über das Testen einer Taktik zur Verbreitung von Angst und Schrecken als Ablenkung von anderen Anschlägen entwickelt. Die Ablenkungstaktik begann im Juni, Juli und ist mit den großangelegten, wöchentlichen Bombenanschlägen im November zu einem Standard in Boko Harams Operationen geworden. Die Bombenanschläge sind eine Ablenkung von kleineren Angriffen, welche die Organisation in Grenzstädten zu Kamerun, Tschad und weiter südlich von ihrem Hauptwirkungsgebiet ausführte. Diese Raubzüge haben verschiedene Versorgungs- und Einkommensrouten sowie die vorderen Stellungen und Grenzgebiete gesichert. Kurz gesagt, während alle in die Richtung der Explosion schauen, positioniert sich Boko Haram an anderen Orten ohne große Gegenwehr. Dies konnte man am 25. November in Maiduguri genauso sehen wie während des Anschlags auf Gombe am 5. November. Diese Strategie sichert Boko Harams „territoriale Ausbreitung“ und ermöglicht ihnen signifikante strategische und taktische Gewinne, einschließlich der Zurückgewinnung längst verlorener Gebiete im Kanem-Bornu-Reich, das die Anführer Boko Harams als ihr Emirat ansehen.

Halt. Geht es Boko Haram nicht darum, ein Kalifat unter dem Shari’a Gesetz in Nigeria aufzubauen?

Eine der Lehren, welche die Verbreitung der Konflikte durch die MENA- und Sahel-Zone in den letzten fünf bis sechs Jahren gezeigt hat, ist, dass die Hauptgruppen unter den Aufständischen die regionale Karte basierend auf präkolonialen Identitäten neu zeichnen, sowohl nach ethnischer als auch Stammes-Zugehörigkeit und dazu frühere Imperien als Vorlage benutzen. ISIS macht dies mit ihrem „Islamischen Staat“ und Boko Haram zeigt die gleichen Tendenzen, indem sie die Kanem-Bornu- und Kanem-Reiche als Inspiration nutzen.

Wie MOSECONs Nik Wright schreibt, sind es die tiefen Stammes- und ethnischen Beziehungen – nicht der Islam – welche die „Rekrutierung und den Zusammenschluss der Mitglieder zur Verfolgung eines kollektiven Ziels mithilfe von Gewalt ermöglichen.“ Dieses auf Identität basierende Macht-Streben – der Kanuri-Stamm, dem Shekau angehört, war Teil des Kanem-Borno-Reiches – ist Boko Harams Motivation, und dies wird häufig von den Anführern der Organisation erklärt. Laut MOSECONs Director of Operations, UK, ist es in der Tat so, dass:

„Boko Harams Anführer, einschließlich Yusuf und Shekau, haben ausgesagt, dass die aktuellen, aus der Kolonialzeit stammenden politischen Grenzen, die Niger und Tschad trennen und Borno mit den Ungläubigen zusammen brachte, nicht anerkannt werden sollen. […] Die Kooperation von Muslimen und insbesondere das Sokoto-Kalifat mit den kolonialen Ungläubigen hat eine unreine Version des Islam geschaffen. Deshalb führte Boko Haram die mehrfachen Anschläge auf Sokoto-Stadt aus sehr symbolischen Gründen aus.“

Wie wir sehen können, betrifft dies nicht nur Nigeria, sondern ist vielmehr ein regionales Problem, das bis nach Libyen und in den Sudan reicht, über Niger und Tschad. Es geht darum, den „reinen“ präkolonialen Status Quo, der mit dem Sokoto-Kalifat als verloren galt, wieder herzustellen. Das erklärt auch Boko Harams Anwesenheit in diesen Gegenden – über wirtschaftliche Gründe hinaus. Das Ziel, das „Goldenen Zeitalter“ wieder herzustellen, ist der Dreh- und Angelpunkt, denn es überbrückt den Sunniten/Shiiten-Graben und gibt Boko Haram die Möglichkeit, mit unerwarteten Partnern zu arbeiten.

Hat Boko Haram dem Islamischen Staat seine Loyalität zugesichert?

Nein, haben sie nicht. Aber sie haben ISIS gerühmt und ihren Erfolg in verschiedenen Propaganda-Videos anerkannt. Es ist relativ offensichtlich, dass Verhandlungen darüber „wer was bekommt und wie“ noch stattfinden. Interessant sind aber die verschiedenen Partnerschaften und Kooperationen, die Boko Haram zu strategischen und taktischen Zwecken entwickelt hat. Noch einmal in Nik Wrights Worten:

„Trotz der offensichtlichen ideologischen, theologischen und ethnologischen Unterschiede zwischen den muslimischen Gemeinden in Nord-Nigeria gibt es eine Synergie zwischen den Shiiten (Islamische Bewegung Nigerias, unterstützt und stark verbunden mit Hisbollah) und den Sunniten (Boko Haram assoziiert sich selbst mit dem Islamischen Staat, nachdem sie sich vormals oder nach wie vor AQIM, Al Shabaab und den West African Islamic Jihads anschlossen). Beide Gruppen glauben, dass säkulare Obrigkeiten nicht an der Macht sein sollten und dass Nord-Nigerias traditionelle muslimische Anführer es zugelassen haben, dass die Regierung Missbrauch an Muslimen verübt hat. Obgleich diese „Zusammenarbeit“ zerbrechlich und schwach ist, hat sie zur Zeit zu einer stillschweigenden Patt-Situation zwischen den beiden Gruppen geführt.“

Diese „Patt-Situation“ oder entfernte Zusammenarbeit entstand aus den Umständen heraus und zeigt, wie weit Boko Harams strategische Neigungen schon gediehen sind. Ihr Blick ist überregional und die Ziele sind mittel- bis langfristig im Vergleich zu der sehr kurzfristigen Planung, die wir aus der Vergangenheit kennen. Dies ist jetzt tatsächlich eine Organisation mit einem Plan.

Es ist also nicht einfach, den Sinn in Boko Harams Handeln und die Auswirkungen zu erkennen. Wir müssen uns dieser Aufgabe jedoch unbedingt stellen, denn dies ist keine Organisation mehr, die nur töten und Chaos verursachen will. Boko Haram ist aus der Zeit der Plünderungen herausgewachsen und hat Taktiken entwickelt, deren langfristige Ziele die Gruppe nun mit der gleichen Unbarmherzigkeit und Bestialität verfolgt, für die sie bereits bekannt ist. Unter diesen Umständen werden sich Tragödien wie der Anschlag in Maiduguri sowie die kleineren, aber höchst wichtigen Anschläge auf Dörfer und Städte immer häufiger wiederholen, das konnten wir im November bereits beobachten.

Es ist unabdinglich, dass die nigerianische Regierung und ihre Sicherheitskräfte zur gleichen Schlussfolgerung kommen, wenn Boko Harams Erfolg gestoppt und die Gruppe zukünftig bezwungen werden soll. Solange die nigerianischen Sicherheitskräfte keine langfristige Strategie aufbauen, die über reines Reagieren hinaus geht und sie in die Position des im Voraus Agierens bringt, könnte Boko Haram damit Erfolg haben, ihr Wunsch-Imperium wieder herzustellen.