19.01.2015

Paris, Baga, Istanbul: Reaktionen auf Terrorismus – Teil 1

Die erste volle Woche des neuen Jahres hat uns noch einmal deutlich vor Augen geführt wie präsent und vielfältig Terrorismus ist. Sie begann damit, dass Nigerias islamistische Organisation Boko Haram die Stadt Baga und ihre Umgebung in Schutt und Asche legte sowie die Basis des dort stationierten multinationalen Einsatzkommandos. Vieles ist derzeit noch unbestätigt, der Feldzug hat sich möglicherweise über fünf Tage hingezogen und resultierte im Tod von 150 bis 2000 Menschen, während über 7000 Flüchtlinge das Gebiet verließen.

Zur gleichen Zeit machte sich in Istanbul eine Selbstmordattentäterin auf den Weg zu einer Polizeiwache und sprengte sich dort in die Luft, wodurch ein Polizeibeamter ebenfalls getötet wurde. Die Verantwortung für den Anschlag übernahm zuerst eine linksradikale Gruppe, die DHKP-C, allerdings nahm sie dies später zurück und nun wird eine dagestanische und/oder tschetschenische Operation verdächtigt. Weitere Anschläge in Istanbul im gleichen Zeitraum waren ein Bombenversuch in einem Einkaufszentrum am 10. Januar sowie ein Granatenanschlag auf den Präsidentenpalast am 1. Januar. Am 6. Januar wurde die Trainingsakademie der Polizei in der jemenitischen Hauptstadt Sana’a bombardiert, 38 Menschen starben. Dieser Anschlag steht möglicherweise mit dem Konflikt zwischen den Houthis und Al Qaida im Jemen (AQAP) in Verbindung.

Doch am Meisten ragten die Anschläge am 7. Januar auf die Mitarbeiter der französischen Wochenzeitung Charlie Hebdo und auf den koscheren Pariser Supermarkt am 8. Januar in Paris heraus. Insgesamt starben 17 Menschen, viele Franzosen und Westler fragten sich was passiert war, Muslime befürchteten Rachefeldzüge und französische Juden zogen die Auswanderung aus Frankreich in Erwägung.

All diese Anschläge, obwohl verschieden in Art und Zweck, werfen zahlreiche Fragen auf und es gab kaum Lösungsvorschläge, wie man tatsächlich mit diesen Problemen umgehen sollte. Im Hinterkopf behaltend dass jeder Terroranschlag einzigartig ist, dass die Umstände und Täter sich stark unterscheiden und dass zu diesem Zeitpunkt vieles noch nicht bekannt ist, sind im Folgenden erste Schritte aufgelistet die dabei helfen sollen, die Auswirkungen des Terrors zu mildern. Da ich 2014 bereits in verschiedenen Artikeln Lösungen für den Aufstand von Boko Haram vorgeschlagen habe, setze ich den Schwerpunkt nun auf die Reaktion auf die Anschläge in Frankreich.

Terrorismus in Europa und Nordamerika

Seit 2011 wurden die meisten Terroranschläge im Westen von Einzeltätern oder sehr kleinen Gruppen (maximal 3 Personen) verübt. Anders Breivik, Mohammed Merah, Mehdi Nemmouche, Martin Rouleau, Michael Zehaf-Bibeau und Amedy Coulibaly, um nur einige zu nennen, handelten alleine, aber nicht alle von ihnen waren „einsame Wölfe“. Die Kouachi und Tsarnaev Brüder arbeiteten zu zweit, ebenso Michael Adebolajo und Michael Adebowale, als sie Lee Rigby ermordeten. Deutschlands mittlerweile berüchtigtes NSU Trio mit Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe – ihr wird derzeit der Prozess gemacht – verbrachten zehn Jahre damit, Einzelpersonen zu ermorden, Bomben zu platzieren und Banken auszurauben, bevor der Schleier von ihren Aktivitäten gelüftet wurde.

Der Trend lässt sich leicht erkennen: Je kleiner desto besser. Egal ob einsamer Wolf oder Einzelattentäter der Unterstützung einer größeren Organisation erfährt, es ist offensichtlich, dass Terroristen die Anschläge auf den Westen planen sich dazu entschieden haben, im Kleinen zu agieren, um weniger Aufmerksamkeit zu erregen, ihre Mobilität und Flexibilität zu steigern und dadurch zwar „kleine“ aber nichtsdestotrotz effiziente Anschläge mit großen Auswirkungen zu verüben. Die Auswirkungen lassen sich nicht unbedingt in der Anzahl der Toten bemessen, sondern in der Art und Weise wie sie den Alltag und die Sicherheitspolitik zahlreicher Länder beeinflussen.

Die Herausforderung dieser kleinen Gruppen – und dies wurde bereits mehrfach in den letzten Jahren erwähnt – ist, dass ihre Aktionen unmöglich vorauszusehen sind. Ähnlich wie Massenmörder fallen einsame Wölfe oder Einzeltäter nicht auf und die Sicherheitskräfte werden ihrer erst gewahr, wenn sie bereits tätig geworden sind. Diejenigen, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, wie Chérif Kouachi und Martin Rouleau, werden oft als nicht bedrohlich genug eingeschätzt, oder wie der französische Anti-Terror-Magistrat Jean-Louis Bruguière es formulierte: “small fry” (kleine Fische). Dies führt entweder zu ihrer Entlassung, minimaler Überwachung (bzw. gar keiner) oder totalem außer Acht lassen, da Sicherheitskräfte sich entscheiden müssen, Ressourcen einteilen und Bedrohungen priorisieren müssen. Häufig ist ihre Entscheidung richtig, aber wenn sie falsch ist, führt sie zu Anschlägen wie in Paris oder in St-Jean-sur-Richelieu, Kanada.

Ein weiteres Thema das aufgetaucht ist und nicht nur den Westen beschäftigt, ist die Verwendung der „was haben wir gerade zur Hand“ Waffe. In Israel wurden Anschläge mit Treckern ausgeübt; Lee Rigbys Mörder benutzten ein Messer; Martin Rouleau nahm sein Auto (so wie andere in Frankreich, um Anschläge während der Feiertage zu verüben); Michael Zehaf-Bibeau nahm ein altes Gewehr; die Tsarnaev-Brüder bauten Bomben aus Druckkochtöpfen und Mennouche, Coulibaly sowie die Kouachi-Brüder verwendeten verschiedene Schusswaffen. Kurz gesagt, Terroristen verwenden heutzutage alles was ihnen als Waffe zur Verfügung steht, egal ob ausgefeilt oder primitiv, Hightech oder Lowtech.

Wenn nun alles als Waffe verwendete werden kann und Terroristen sich klein genug machen, um durch die Maschen des Sicherheitsnetzen zu schlüpfen, wie sollte der Westen dann reagieren?

1. Denkt praktisch, nicht politisch

Terroranschläge können einen Politiker fördern oder zu Fall bringen, je nachdem wie er die Situation verwaltet. Der ehemalige U.S.-Präsident George W. Bush machte sich nach den Anschlägen des 11. September 2001 einen Namen, während Jose Maria Aznar mit seiner fürchterlichen Handhabung des Bombenattentats auf Madrid am 11. März 2004 politischen Selbstmord beging. Der Druck, etwas zu tun, ist nahezu unerträglich und führt dazu, dass Entscheidungsträger sofort handeln und Lösungen propagieren, entweder aus PR-Gründen oder aufgrund der Verwaltung von Bedrohungen. Die politische Opposition erhöht den Druck zusätzlich, da sie einen Anschlag zur Selbstpositionierung als bessere Alternative nutzen kann. Dies konnte man nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo beobachten, als viele rechte und rechtsextreme Gruppen in Europa sofort versuchten, Nutzen aus der Tragödie zu schlagen. Das prominenteste Beispiel hierfür ist dieses.

Unter solchen Umständen sind reflexartige Reaktionen und breitangelegte Lösungen höchst gefährlich. Auch wenn es unerlässlich ist, dass Regierungsoberhäupter ihre Entschlossenheit und Fähigkeit zeigen, ein Land durch schwere Zeiten zu steuern, ist es keine Lösung, die politische Komponente eines Anschlags auszubeuten. Als Beispiel dient hier der Vorschlag, die Überwachung zu verstärken. Der französische Premierminister Manuel Valls forderte dies, ebenso David Cameron und Deutschlands Bundesminister des Innern Thomas de Maizière. Deutschlands Justizminister Heiko Maas ist jedoch gegen diesen Vorschlag und zeigt damit den Bruch innerhalb des Kabinetts bei diesem Thema.

Auch wenn sich verstärkte Überwachungsmaßnahmen nach einer guten Antwort anhören, sind sie es in der Realität nicht. Über die zahlreichen ethischen Streitpunkte hinaus ist eine größere Überwachung praktisch unmöglich. Einerseits weil einige Terroristen, wie Michael Zehaf-Bibeau, der Kanadas Parlamentsgebäude angegriffen hat, nicht sehr oder gar nicht im Netz aktiv sind. In einem solchen Fall bedarf es einer physischen Überwachung, entweder durch jemanden, der diese Person überwacht, durch Abhören oder Kameraüberwachung. Dies impliziert aber auch, dass man weiß, wonach man sucht – die schwierigste Aufgabe überhaupt. Andererseits ist die Informationsflut, die durch Metadaten hervorgerufen, wird so groß, dass die Mittel (sowohl menschliche als auch technologische, die zum Filtern gebraucht werden) – trotz hervorragender Algorithmen – niemals ausreichen, um eine Bedrohung richtig einzuschätzen. Ein großer Anteil der Informationen erstickt entweder in der Masse oder wird zu spät entdeckt. Letztendlich bleibt auch die Frage, ab wann eine Person als nicht-bedrohlich eingeschätzt wird. Die Überwachung der Kouachi-Brüder wurde laut der französischen Polizei aufgrund der Priorisierungsnotwendigkeit der Sicherheitskräfte unterbrochen und die Brüder standen nicht hoch genug auf der Liste, um eine weitere Überwachung zu rechtfertigen.

Einige mögen sich für präventive Festnahmen aussprechen – legal in vielen westlichen Ländern – aber die Überbelegung von Gefängnissen und Radikalisierung während der Haft sind echte Probleme, welche die Anwendbarkeit solcher Maßnahmen einschränkt, ohne überhaupt auf die ethischen Aspekte einzugehen. Daher ist der Vorschlag, die Überwachungsmaßnahmen auszuweiten, nicht sehr praktisch trotz der politischen Bedeutung. Auf eine Erhöhung des operationalen Budget für Sicherheitskräfte hinzuarbeiten kann sicher auch nicht die Lösung für alles sein, aber dies würde zumindest eine Priorisierung ermöglichen und gleichzeitig eine zweit- oder drittgradige Beobachtung von Fällen, die als potentielles Risiko eingeschätzt werden, ermöglichen. Außerdem hätte diese Lösung einen zusätzlichen politischen Nutzen.

Ein weiterer Vorschlag, der sich ebenfalls gut anhört aber äußerst unpraktisch ist, ist die Reglementierung von Waffenbesitz, denn wenn keine Alltagsgegenstände oder Autos als Waffen verwendet wurden, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie illegal beschafft wurden und Waffenkontrollgesetze richten sich üblicherweise auf die Kontrolle des legalen Schusswaffen-Erwerbs. Deshalb sollte der Fokus sich hier auf die Bekämpfung des illegalen Waffenhandels richten und nicht auf die Einschränkung des legalen Waffenerwerbs. Darüber hinaus werden viele mit Terrorismusbekämpfung beschäftigte Justizbeamte bestätigen können, dass es nicht nötig ist, nach Syrien oder in den Irak zu fliegen, um zu lernen wie man eine Waffe benutzt. Die Straßen vieler Städte weltweit bieten diese Möglichkeit, ebenso wie sie die Möglichkeit der Radikalisierung bieten. Ja, Reisen nach Syrien, in den Irak oder nach Libyen können ein Indikator für ein mögliches Waffentraining sein, aber es ist gut möglich, dass die Person bereits vor ihrer Abreise eine Waffe benutzt hat.

Noch einmal, auch wenn diese „Lösungen“ politisch attraktiv sind, so bieten sie dennoch kaum effektiven Schutz vor Terrorismus. Die meisten Sicherheitskräfte haben ausreichend Macht und Material zur Verfügung. Was ihnen fehlt sind die Ressourcen, sowohl finanziell als auch personell, um diese entsprechend zu nutzen.

2. Denkt wie der Terrorist: Klein, flexibel, anpassungsfähig

Das Problem mit Strategen und Entscheidungsträgern und ihrer Reaktion auf Anschläge ist, dass sie sich für die generellen, weitreichenden Maßnahmen entscheiden, die eine zusätzliche Last für die Prozesse der Justiz und Bürokratie bedeuten und damit ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit behindern. Was Terrorismusbekämpfungs- und Justiz-Mitarbeiter jedoch im Fall einer terroristischen Bedrohung wirklich brauchen ist die Fähigkeit, schnelle, anwendbare Entscheidungen treffen zu können.

Ironischerweise hat Frankreich sich diese Befugnisse mit dem 1986 Pasqua Gesetz, dem 14e parquet de Paris selbst gegeben. Wie ich 2008 schrieb:

Das 1986 Pasqua-Gesetz, benannt nach dem damaligen Innenminister, schaffte die 14e section spéciale du parquet de Paris, eine besondere Justiz-Abteilung bestehend aus sechs Antiterror-Richtern, die alle mit Terrorismus verbundenen Fälle behandeln. Dieses Gesetz besagt, dass jeder, der des Terrorismus verdächtigt wird, verhaftet und ohne Anklage vier Tage festgehalten werden kann, wobei sich die Haft um 48 Stunden verlängern kann, falls ein unmittelbarer terroristischer Akt vermutet wird. Wenn der Richter seine Absicht zur strafrechtlichen Verfolgung erklärt, kann der Verdächtige auf unbegrenzte Zeit, in einigen Fällen sogar mehrere Jahre, festgehalten werden.

Im Fall von Paris wissen wir wie Jean-Louis Bruguière Chrif Kouachi abgetan hat, aber die 14e section spéciale du parquet the Paris war und ist dafür geschaffen, diese Flexibilität und schnelle Reaktion zu ermöglichen. Das Problem war der Mangel an Ressourcen.

Trotz des Scheiterns beim Anschlag auf Charlie Hebdo bleibt das Modell, welches die 14e section spéciale bietet, gut und rechtfertigt durchaus eine genauere Inspektion durch Entscheidungsträger anderer Länder. Es muss nicht unbedingt 1:1 kopiert werden – es muss an die Gegebenheiten des jeweiligen Staates angepasst werden – aber viele der Befugnisse und die Anwendbarkeit können gut exportiert werden.

Flexibilität und Anpassungsfähigkeit erlauben außerdem einen involvierteren Ansatz, der durch die Verwendung von mehr HUMINT Ressourcen erreicht werden kann, die ihre Ohren am Boden und die Augen auf Versammlungen auf haben. Einige mögen dies für eine teure und „langsamere“ Taktik halten, aber sie bietet die Möglichkeit, die subtileren und differenzierteren Elemente radikaler Kreise oder Gegenden zu bemerken, von denen viele nicht durch Algorithmen aufgespürt werden können, insbesondere wenn es keine Online-Präsenz gibt. Sie werden bemerken, dass im “gescheiterten Anschlag auf das Capitol”, der am 14. Januar aufgedeckt wurde, die Festnahme aufgrund einer verdeckten Ermittlung erfolgte. Obwohl sogar der Staatsanwalt den Bedrohungsgrad durch den Möchtegern-Terroristen als unbedeutend einschätzte, war die Kombination aus HUMINT und SIGINT mit ihrer inhärenten Flexibilität erfolgreich und werden dies auch weiterhin sein, ob mediatisiert oder nicht.

Terroristen passen sich an unsere implementierten Sicherheitsmaßnahmen und -Gesetze an, aber wir versäumen es oft, das Gleiche zu tun. Es kann keine Lösung sein, ein größeres Netz weiter auszuwerfen. Was wir brauchen ist das richtige Netz, das in den richtigen Gegenden fischt, d.h. wir müssen den Sicherheitskräften ausreichende und angemessene Ressourcen gewähren, mit denen sie bei einer Bedrohung agieren können.

Im zweiten Teil dieses Artikel werden ich einige weitere Lösungen diskutieren, inklusive angemessener strategischer Planung, Auswirkungen von Technologie und Verstehen der Sicherheitsrealität.