16.06.2015

Tschadsee-Region, Boko Haram und ISWAP: Strategien und Lösungen für einen sich ausbreitenden Konflikt

Am 15. Juni verübten Terroristen der kriminellen Organisation Boko Haram (BH) und ihre vermutliche Schirmorganisation Islamic State Western Africa Province (ISWAP), einen Anschlag auf die Polizeizentrale in der Hauptstadt des Tschad N’Djamena sowie in der Stadt Potiskum in Nigerias nordöstlichem Bundesstaat Yobe. Dies sind die jüngsten Anschläge in einer Reihe von durchschnittlich einem pro Tag seit der Amtseinführung des nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari am 29. Mai. Alle Anschläge hatten geringe Auswirkungen und folgten dem Muster der letzten 16 Monate, nach dem kleinere Anschläge auf Dörfer und Städte durch Selbstmordanschläge in anderen Regionen ergänzt wurden und das Areal über Nigerias Nordosten hinaus erweitert wurde.

Diese „heiße Reihe“ von Boko Haram/ISWAP kommt nicht überraschend, nicht unbedingt aus strategischen Gründen, – dazu später mehr – sondern weil sie auf eine Anpassungsphase folgt, die wir bereist seit August 2013 bei dieser Organisation sehen konnten. In der Tat scheint die Organisation zu schwächeln, seitdem sie das Ziel erfolgreicher Sicherheitsoperationen war. Dies zeigte sich Mitte September 2013 und Anfang Dezember desselben Jahres, erneut von Anfang September 2014 bis Ende Oktober 2014 und in diesem Jahr von Anfang März bis Ende April. In jedem Fall folgte auf die Neubeurteilungsphase und Anpassungsperiode eine sehr aggressive und sehr erfolgreiche Serie von Anschlägen durch Boko Haram – so wie die derzeitige.

Diese intensive Konfliktperiode wirft erneut Fragen zu BH/ISWAPs Stärken und Fähigkeiten auf, zu ihrem Einfluss auf die Region und welche Möglichkeiten die regionalen Sicherheitskräfte haben, die Gruppe und ihre Partner zu bezwingen. Diese Fragen werde ich im Folgenden versuchen zu beantworten.

War Boko Haram nicht auf der Flucht und so verzweifelt, dass sie dem Islamischen Staat die Treue geschworen haben?

Zu keiner Zeit. Während es absolut keinen Zweifel gibt, dass die MJTF-Einsätze im Februar und März Boko Haram große Verluste zufügten, waren sie zu keiner Zeit „verzweifelt“ oder „auf der Flucht“. Die Organisation hat nie versucht, irgendein Gebiet zu festigen und hat mit Sicherheit nie ein Gebiet verteidigt, wenn ihre Standorte angegriffen wurden. Sie fielen immer wieder zurück in andere Gebiete oder ließen wenig mehr als eine Minimalbesatzung in diesen Gebieten zurück. Die Einsätze hatten zwei Ergebnisse zur Folge: Erstens wurde Boko Haram gezwungen, sich wieder ihrer Versteckspiel-Guerrilla-Taktiken zu bedienen, die sie bereits bis zu ihren großen Erfolgen im Jahr 2014 verwendeten und die in stabileren Basislagern resultierten. Die Bekanntesten sind das Lager in Gwoza und ihr Stützpunkt im Sambisa-Wald. Zweitens und noch wichtiger ist, dass sie Boko Harams Aktivitäten im Osten störten, die Schmuggelrouten, das Einkommen, Lieferungen und Rückzugpositionen der Gruppe waren betroffen. Das bedeutet, dass Boko Haram ohne ihren wichtigsten Schmuggel-Korridor auskommen mussten und nun komplett abhängig von ihrer nördlichen Schmuggel-Achse waren, die durch Niger, Tschad, Mali und Libyen führt. Eine Route, die stark vom Islamischen Staat und ihrer Präsenz in Libyen kontrolliert wird.

In zwei älteren Beiträgen habe ich bereits erwähnt, dass der Islamische Staat und Boko Haram sich über Einflussgebiete unterhalten haben, die von den verschiedenen Geschäftsbedürfnissen der beiden Organisationen diktiert werden. Solange Boko Haram in der Lage war, die Schmuggel-Zollschranke, die Nigeria darstellt, zu kontrollieren oder wenigstens deutlich zu beeinflussen, konnten sie die Bedingungen selbst bestimmen und auf Augenhöhe verhandeln. Als die Ostroute erst einmal betroffen war, blieb als einziger effektiver Lieferweg der Norden. Dadurch kam der IS in die Lage, die Verhandlungen zu dominieren, was letztlich zur baya’t am 7. März 2015 führte.

Zusammen mit dem Druck durch die MJTF- Einsätze und einem neuen „Management“ hat dieser neue logistische Kontext bei Boko Haram zu einer ihrer mittlerweile typischen Restrukturierungs-/Neubeurteilungs-Phasen geführt, die nicht nur in die aktuelle Anschlagsserie resultierte, sondern auch in die Gründung des Islamischen Staats West-Afrika-Provinz: Wilāyat al Sūdān al Gharbī (auf Arabisch).

Warum mit der Anschlagsserie bis zur Amtseinführung des nigerianischen Präsidenten warten?

Es gibt zwei Gründe dafür, dass die Anschläge jetzt verübt werden. Der Erste ist offensichtlich: Es geht darum, eine Botschaft zu senden. Präsident Buhari ist ehemaliger Militärangehöriger und hat versprochen, Boko Haram zu vernichten. In seiner Ansprache nannte er sie gottlos, erklärte sie zur Priorität und kündigte bereits an, dass ein Teil der Kommandostelle der nigerianischen Armee nach Maiduguri verlegt werden würde. In anderen Worten, Buhari ist gewillt, den Kampf gegen die Terroristen aufzunehmen. Durch die Anschläge, die nur Stunden nach seiner Ansprache und in den darauffolgenden Tagen gleichzeitig und in weit voneinander entfernten Gebieten verübt wurden, zeigen ISWAP/BH, dass sie die Fähigkeiten haben jederzeit an jedem Ort ihrer Wahl zu zuschlagen, dass sie eine Macht sind, mit der man rechnen muss und dass sie den neuen Präsidenten und seine Politik nicht fürchten.

Der zweite Grund ist taktisch. Buhari hat sich aus verschiedenen Gründen entweder dazu entschlossen oder er konnte keinen Mitarbeiterstab zusammenstellen und während der Übergangsphase seiner Präsidentschaft eine Strategie entwickeln und anwenden. Hunderte von Soldaten und Offizieren wurden entlassen, ein neuer Generalstabschef wurde ernannt, die Kommandozentrale wurde verlegt, doch es wurden immer noch keine Minister gewählt. Da viel von der Politik abhängt, bedeutet dies, dass es aktuell keine Strategie gibt und niemand wirklich in der Position ist, die Sicherheitseinsätze zu übernehmen und den Boko Haram Anschlägen zu begegnen. Diese momentane Lücke ist eine große Schwäche, welche die Terroristen gnadenlos ausgenutzt haben.

Die Probleme, die mit dem derzeitigen Machtfluss zusammenhängen, werden durch die nicht vorhandene gemeinsame MJTF-Strategie noch verstärkt. Nach den Versammlungen letzte Woche, zuerst zwischen den Generalstabschefs der Staaten des Tschadsee-Basins und dann zwischen den Staatsoberhäuptern, wurden Pläne einer gemeinsamen Strategie unter nigerianischer Anführung veröffentlicht, die am 30. Juli in Kraft treten sollen. Wenn man davon ausgeht, dass es bereits eine Struktur gibt und eine begrenzte Kooperationsstufe, die für die Erfolge im Februar und März verantwortlich waren, dann ist es äußerst problematisch, zwei weitere Monate mit der Umsetzung neuer Strategien zu warten und kann den Terroristen nur von Nutzen sein.

Es ist jedoch nicht unmöglich, dass der Tschad im Rückblick auf die Anschläge in N’Djamena am 15. Juni aggressiver reagieren wird und darauf hinarbeiten wird, das Anfangsdatum möglicher MJTF-Einsätze vorzuverlegen. Derzeit sind ISWAP/BH aber genau so stark wie das Vakuum der Übergangsphase es ihnen erlaubt.

Was bedeutet das für die Region?

Boko Haram waren lange vor der Umbenennung in ISWAP ein Problem. Mit Basislagern und Anschlägen in Kamerun, im Tschad und in Niger sowie einer Präsenz im Sudan, Südsudan, Mali, Libyen und seit Kurzem in Ghana und Algerien sind Boko Haram seit geraumer Zeit regionale – sogar überregionale – Spieler. Die spannende Frage ist, wie beeinflusst die derzeitige Lage die Region und die Großregion?

Zuerst einmal gibt es die Instabilität und die Auswirkungen von Konflikten, die von der neuen regionalen Dynamik bereits beeinflusst werden oder zukünftig beeinflusst werden könnten. Der Konflikt in Mali, Unruhen in Burkina Faso, der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo und Südsudan, Bürgerkrieg in Libyen, fürchterliche wirtschaftliche Umstände im Tschad und in Niger sowie eine Wirtschaftskrise in Nigeria sind alle Faktoren, die in den letzten Jahren von Terroristen und Aufständischen erfolgreich ausgenutzt wurden. Diese Umstände begünstigen außerdem illegalen Handel und Schmuggel, die für Terroristen von ökonomischem und strukturellem Nutzen sind. Darüber hinaus bedeutet es, dass jede Art von Grenzkontrolle im besten Fall mangelhaft ausfällt.

Unter diesen Umständen zeigt sich die Stärke von ISWAP: Nicht unbedingt in ihren militärischen Mitteln oder ihrer Beratung, sondern in der Fähigkeit des IS als Koordinator und Vermittler zwischen verschiedenen Gruppen und Abteilungen zu agieren und sicherzustellen, dass Transaktionen und Geschäftsabläufe reibungslos von statten gehen. Laut MOSECONs Informationen wird diese Koordination von Algerien und Libyen aus gesteuert und beschränkt sich zurzeit auf Koordination und Vermittlung, während Militärkommandeure ihre eigenen Operationen planen.

Da dies weit über die Tschadsee-Region hinaus geht, müssen die regionalen Akteure verstehen, dass die Gefahr, die ihre Sicherheit bedroht, nicht länger vor ihrer Haustür lauert, sondern viel weiter entfernt gelagert ist. Es bedeutet auch, dass die lokale Auseinandersetzung mit BH/ISWAP ohne eine überregionale Kooperation nur die Symptome behandeln wird aber nicht die Ursache. Kurz gesagt, die Sicherheit Nigerias ist nun direkt mit der von Libyen, der Demokratischen Republik Kongos oder des Südsudans verbunden.

Der Kampf gegen Boko Haram ist nicht mehr regional. Er ist afrikanisch.

Lösungen und Strategien?

Das erste Lösungselement ist die negativen Effekte der Übergangsphase zu beschränken. Das bedeutet, andere Komponenten als das Militär in den Kampf gegen Boko Haram hinzuzuziehen, wie die Polizei und staatliche Sicherheitskräfte, die bereits vor Ort sind. Es ist eine kurzfristige Lösung, aber diese Sicherheitszweige haben die Ressourcen und die Fähigkeiten, Druck auf die Terroristen auszuüben, während das Militär sich neu organisiert. Sie sind außerdem auch langfristig wichtig. ISWAP Kämpfer sind kein Teil einer Armee. Sie nutzen Guerrilla-Taktiken, verüben Anschläge mit einer geringen Anzahl von Gruppen sowie Selbstmordattentate. Polizeikräfte können dabei helfen, die Auswirkungen von verdeckten und terroristischen Einsätzen zu mindern, indem sie Kontrollen verstärken und den Sicherheitsdruck in bestimmten Gebieten erhöhen. Darum ist es kurz- und langfristig unabdinglich, dass die verschiedenen Sicherheitszweige ihre Ressourcen und Fähigkeiten vereinen, statt einzeln aufzutreten.

Das zweite Lösungselement ist eine echte MJTF zu haben, die von einer gemeinsamen Strategie und einem gemeinsamen Ziel geleitet wird und über eine Struktur verfügt, die tatsächlich gemeinsam durchgeführte Einsätze erlaubt und Taktiken verwendet, welche die Stärken der beteiligten Einheiten maximiert. Die aktuelle Kooperation war bisher bestenfalls mittelmäßig und bestand aus den Klagen jeden Landes und ihren öffentlich ausgetragenen Zankereien. Die beteiligten Armeen müssen verstehen, dass eine Zusammenarbeit nicht Unterwerfung oder Unterordnung bedeutet, sondern ein Mittel ist, die Effektivität und Effizienz zu steigern. Der peinliche Vorfall in Gambaru/Fotokol, wo Boko Haram Kämpfer einfach die Brücke nach Fotokol überquerten als Tschads Truppen Gambaru angriffen, muss der MJTF als dauerhaftes Beispiel dienen wie sie nicht agieren dürfen, wenn sie wirklich erfolgreich sein wollen.

Entscheidend ist außerdem, dass die regionale Kooperation über das Militärische hinaus geht. Polizei, Grenzeinheiten, Nachrichtendienste, Überwachungs- und Zivilgesellschaftsorganisationen müssen beteiligt werden um sicherzustellen, dass die Aufständischen nicht einfach die Grenze überqueren, sondern tatsächlich kein Versteck und keinen Rückzugsort mehr haben. Bisher waren Nigeria und andere regionale Staaten nicht in der Lage, Boko Haram aufzuhalten. Jetzt wo sie zu einer wirklich regionalen Größe werden, ist ihre Begrenzung umso schwieriger geworden, aber nichtsdestotrotz ist es zwingend notwendig, dies zu erreichen.

Letztendlich müssen die Entscheidungsträger in dem Gebiet die Verbünde verstehen, die es dem Islamischen Staat und Boko Haram ermöglicht haben, sich auszubreiten und zu überregionalen Faktoren zu werden. Der Bürgerkrieg in Libyen und der Konflikt in Mali, um nur zwei zu nennen, beeinflussen direkt die Sicherheit dutzender afrikanischer Staaten – ebenso wie der Konflikt in Nigeria. Das Verständnis, dass „ihr Problem mein Problem ist“, ist der Schlüssel um sicherzustellen, dass den verschiedenen Strömen und Nischen das Wasser abgegraben wird, die es Organisationen wie ISWAP bisher ermöglichen sich zu entwickeln und zu erhalten, um sie schließlich verwundbar für eine Niederlage zu machen.

Die Bedrohung durch terroristische Gruppen und Aufständische in Nord- und Zentralafrika hat sich erst in den letzten drei Jahren entwickelt und verschlimmert, und die aktuelle Anschlagsserie zeigt, wie gut sich Terroristen an neue Umstände anpassen können. Solange die betroffenen Staaten nicht in der Lage sind, eine einheitliche, geschlossene, facettenreiche und angepasste Reaktion anzubieten, wird die Bedrohung weiter wachsen, so wie wir es bei Boko Haram seit Februar 2014 sehen.